Virtuosität aus breitem Spektrum. All diese Privatissima werden durch hohe Disziplin, Intelligenz, Täuschung, Macht und ausgesuchte Getreue Jahrzehnte lang so geheim gehalten wie auch andere politisch und wahltaktisch relevante Informationen, die der 1981 zum Französischen Staatspräsidenten gewählte Jurist, Politologe und Literat bei grösster Flexibilität mit unglaublicher Virtuosität bis ins Paradoxon variiert: seien es zwei seiner drei während Jahrzehnten geliebten Frauen, seine zwischen rechts und links changierenden politischen Positionen, seine immensen Kenntnisse der französischen Literatur, der deutschen Klassik und der europäischen Kultur, seien es seine sprachliche Eloquenz, physische Präsenz und politische Intelligenz, seine umstrittene frühe Vichy-Verwicklung und seine späte Résistance-Unterstützung, seine Kriegsverletzung und Gefangennahme trotz seiner Zugehörigkeit zur Grande Nation, seine vielfach positiven persönlichen Erlebnisse mit wohlwollenden Deutschen und seine Bekämpfung teutonischer Nazi-Barbarei die wie ein böser Geist von ihnen Besitz ergriffen habe, seine Treue gegenüber Freunden und seine Rücksichtslosigkeit gegenüber zu Feinden gewordenen Abtrünnigen, sein pragmatischer Opportunismus und sein ideologieferner Realismus - und allem übergeordnet seine persönliche Unabhängigkeit, Autonomie und Freiheit.
Gute Nachbarschaft mit Deutschland. Zu den zentralen Fixpunkten François Mitterrands zählt sein Verhältnis zu Deutschland, das er nicht lieben kann, aber das er in einigen Gebieten bewundert und dessen Bewohner er gerne hat - nicht so stark natürlich wie seine "France profonde", seine tief in ihm verwurzelte Heimat und seine glorreiche Kultur. Hier ist er 1942 sogar selbstkritisch, und meint, sein Land habe sich seit Napoleon Bonaparte im Ancien Régime zu stark irrealen Zielen verschrieben und ihm und seiner Generation am Schluss auch noch eine Regierung der Volksfront und nun die Gefangenschaft beschert. Er sieht in den Deutschen keine Erzfeinde, wie im und nach dem Krieg die Mehrheit seiner Landsleute, sondern denkt, dass eine böse Macht vom deutschen Volk Besitz ergriffen habe. Die Deutschen hätten ein wesentlich positiveres Bild von den Franzosen, als umgekehrt, sagt er aufgrund seiner Erfahrungen in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern und angesichts Bezeugungen «archaischen Mitleids». Um nicht gleich als Kollaborateur oder gar als Nazi-Sympathisant zu gelten, kann er diese Erfahrung und Einstellung nur zurückhaltend äussern. Er sei kein guter Visionär gewesen, konstatieren drei massgebliche Stimmen, die sich intensiv mit dem Thema Mitterrand und Deutschland auseinandergesetzt haben: 2004 Brigitte Seebacher in ihrer grossartigen Biographie "Willy Brandt", 2011 Ulrich Lappenküper in seiner meisterhaften detaillierten Studie "Mitterrand und Deutschland" und 2014 Angelika Praus in ihrer als Buch publizierten ausgezeichneten Doktorarbeit "Das Ende einer Ausnahme – Frankreich und die Zeitenwende 1989/90". Mitterrand ist zuerst ein ablehnender, dann zögerlicher, dann ein kraftvoller Mitgestalter des heutigen Europa, nicht zuletzt auch der Währungsunion mit dem Euro als von ihm stark promovierte Einheitswährung. Immerhin ist er der Staatsmann, der die Wiedervereinigung Deutschlands als geschichtlich vorgegebenes Ereignis schon vor 1996 erwartet, während sein Gesprächspartner Helmut Schmidt – wie alle anderen Politiker und Zeitgenossen – gemäss den von Jacques Attali protokollierten Gesprächen am 7. Oktober 1981 davon ausgeht, dass dies viel mehr Zeit benötigen werde und dass er dieses Ereignis nicht mehr erleben werde. Als die Wiedervereinigung Deutschlands dann schon 1989/90 zustande kommt, ist Mitterrand allerdings ein zunächst wieder schwankender Geselle.
Bürgerlich-katholischer, hochkultivierter und zupackender Mensch, der die Freiheit liebt. Der 1916 inmitten des Ersten Weltkrieges geborene François wächst mit sieben Geschwistern als Sohn eines Essigfabrikanten in bürgerlicher Provinzumgebung im Südwesten Frankreichs nahe der Atlantikküste auf. In einer von katholischen Patres geführten Schule wird der an Mathematik wenig interessierte, aber in allen Gebieten überragende Schüler stark von christlichen Gedanken und von der Lektüre der Werke der grossen griechischen Philosophen und der römisch-lateinischen Klassiker sowie der katholischen Kirchenväter in ihren Originalsprachen geprägt. Aus diesem politisch rechts angesiedelten bürgerlichen und militärisch-national geprägten katholischen Milieu hat er seine an Machiavelli geeichte Werteskala. Sie wird nach seiner Ansicht in den Dreissiger Jahren auf dem Hintergrund eines zu selbstzufriedenen Frankreichs vor allem von Sozialisten und Kommunisten bedroht, und noch nicht so vom erst vor zwei Jahrzehnten besiegten Deutschen Reich. In seiner Studienzeit in Paris zwischen 1934 und 1938 zum Juristen und Literaturfachmann tritt der eloquente und eine unübersehbare Präsenz ausstrahlende François Mitterrand verschiedentlich als Sympathisant oder Exponent rechtsbürgerlicher Gruppierungen in Erscheinung und verfasst erste Artikel für rechtsnational orientierte Publikationen.
Bereits als 23-Jähriger hat er seine Lizenziatsdiplome eines Juristen und eines Sorbonne-Philologen in der Tasche und kennt die französische Literatur wie nur Wenige, zitiert aus dem Stegreif ganze Passagen Pascals; aber auch Goethe und Schiller in Weimar, Martin Luther auf der Wartburg sowie Thomas Manns Buddenbrocks sind ihm literarisch vertrauter als den meisten Deutschen. Nimmt er an den in Frankreich üblichen und gestrengen nationalen Einstellungswettbewerben teil, so findet man seinen Namen meist auf den vorderen Rängen.
Schwer verwundet und Kriegsgefangener. Nach dem "Anschluss" Österreichs und der Inbesitznahme der Tschechoslowakei wird beim Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Polen 1939, wie angekündigt („Bis hierher und nicht weiter!“), zusammen mit Englands auch Frankreichs Kriegserklärung an Deutschland ausgelöst. Mitterrand wird bei der Mobilmachung in die Infanterie einberufen. Er wird Unteroffizier und erwartet an der Maginot-Linie einen „drole-de-guerre“-Stellungskrieg, als die Deutsche Kriegsmaschinerie 1940 in Frankreich einfällt, und er in der Nähe von Verdun durch ein unter dem linken Schulterblatt eindringendes Schrapnell schwer verwundet wird, ein Handicap, das ihm in Form eines behinderten linken Armes lebenslang bleibt. Das Krankenhaus Lunéville, in das er rücklingsliegend auf einem Holzkarren gezogen und von Kampfflugzeugen überflogen wird, ist kurz darauf in deutscher Hand. Mitterrand kommt ins Lazarett, dann in verschiedene zum nordhessischen Kriegsgefangenenlagen-Stammlager «Stalag» IX Ziegenhain (heute: Gedenkstätte Trutzhain) gehörende Lager für 40 000 Kriegsgefangene, davon 35 000 französischer Herkunft.
Schwere Rodungs- und Strassenbauarbeiten. Entgegen der Genfer Konvention wird in einigen der verschiedenen zum Stalag IX zählenden Lager schon 1940 gearbeitet, um die an die Front geschickten Deutschen an ihrem Arbeitsplatz in der Heimat zu ersetzen. Insgesamt werden es im Jahre 1943 1,6 Millionen französische Kriegsgefangene und 650 000 Zwangsarbeiter sowie alle 21-23-Jährigen Franzosen sein, die in Frankreich dem Hitlerreich ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen müssen. Einer davon ist François Mitterrand, der im Sommer 1940 nach kurzem Aufenthalt im Stalag IX A in Ziegenhain – 8000 Gefangene auf einer Fläche von 47 Hektar – nach einer weiteren Verlegung im thüringischen Kriegsgefangenen-Arbeitslager Schaala bei Rudolstadt landet. Hier im Stalag IX C ziehen die Nazis eine heterogene Gruppe sogenannter «Intellektueller» zusammen. Darunter sind mehrheitlich Akademiker wie Lehrer, Priester und Rechtsanwälte sowie Linke aus verschiedenen politischen Richtungen, auch vom verlorenen Spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrte Kommunisten und Sozialisten, Arbeiter und Winzer. Hier haben sie bei Rodungs- und Strassenbauaufgaben schwere körperliche Arbeit zu verrichten. Aufgrund der nur mangelhaften Ernährung ist man froh, wenn man von zuhause über das Rote Kreuz Geschenkpakete zugeschickt bekommt.
Gesetz des Messers unterliegt sozialer Kompetenz. In einem Kriegsgefangenen-Lager regiert die Siegermacht und wenn es gut geht unter Beizug der Vertrauensleute der Gefangenen der Buchstabe des Gesetzes gemäss der Genfer Konvention. Doch im Alltag gelte auch das Gesetz des Messers, stellt der junge Akademiker Mitterrand nach Aufenthalt in mehreren Kriegsgefangenenlagern fest, und das nicht nur, wenn es um Brotrationen, sondern auch um Privilegien geht. Auf engem Raum stellt sich durch die Gefangenenkleidung die Frage der Gleichheit, aber auch der Würde und Armut – Themen, die in einer Gesellschaft der starken Brüche neu anzugehen sind und eifrig diskutiert werden. Doch dabei entsteht noch etwas Stärkeres als ein Messer: eine Gruppen-Vereinbarung, ein Contract Social aus Mut, Geradlinigkeit und Gerechtigkeit. Zwei körperlich kräftige und durchsetzungsfähige, im Lagerleben dominierende Mitgefangene werden lebenslang zu seinen besten Freunden zählen: der grossgewachsene Burgunder Winzer Jean Munier und der kräftige vom Spanischen Bürgerkrieg zurückgekehrte kommunistische Arbeiter Roger-Patrice Pelat, der es zu Reichtum bringen und Mitterrands Karriere finanziell unterstützen wird.
Mitterrand will von allem frei sein. Ein Mitterrand lässt sich nicht lange einsperren – weder körperlich noch geistig. Keine drei Monate im Arbeitskommando Schaala, das in einer ehemaligen Steingutfabrik untergebracht ist, bereitet er auch schon die Flucht in Richtung Schweiz vor. Kartenunterlagen aus der Fahrschule verwendet er, um sich penibel einen eigenen Fluchtplan zu zeichnen. Der kräftige Jean Munier hat guten Kontakt zu Arbeitern, die für Mitterrand nicht nur einen Rucksack, sondern auch einen besseren Umhang nähen, in dessen Rockschoss der Fluchtplan versteckt werden kann. Am 5. März 1941 frühmorgens bei leichtem Schneefall verlässt er das Lager in Richtung seiner Strassenbaustelle, kehrt am Abend aber nicht mehr zurück – des Weiteren ist ein Xavier Leclerc abgängig, ein aus dem selben Heimatdepartment Allier stammender Jesuitenvikar. Bäume roden und Strassen bauen war ihre Hauptaufgabe. Zur Flucht verholfen und ihre Abwesenheit den ganzen Tag verschwiegen hatte Jean Munier, der respektierte Vertrauensmann der in Schaala zum Arbeitsdienst verpflichteten Kriegsgefangenen.
Nachts im Winter 580 Kilometer zu Fuss auf der Flucht. Neben Zwieback, Tee, Zucker und Schokolade für kleinste Tagesmengen nehmen sie auch Schuhwichse mit - ein gepflegtes Aussehen mit täglich frischpolierten Schuhen und glattrasiertem Gesicht sei Voraussetzung, um nicht gleich negativ aufzufallen. Ausgerüstet mit Karte und Kompass, werden sie im nasskalten März 1941 bei Schnee und viel Regen 22 Nächte entlang der Mittelgebirgszüge zu Fuss unterwegs sein, bis sie ihren Endpunkt der Reise erreichen, der mit ihrem Zielpunkt leider nicht identisch ist.
Schon vorher erleben sie zwei besonders kritische Momente. Am 12. Fluchttag laufen sie einem mit dem Fahrrad patrouillierenden Feldgendarmen in die Hände, der sie anweist, sich zur Einvernahme an den Ortsanfang zu begeben, was sie natürlich nicht tun. Am 18. Fluchttag ist Vikar Leclerc so schlecht beieinander, dass er Medikamente benötigt. Mitterrand mimt in einer Apotheke einen italienischen Bauarbeiter und kehrt erst nach viel längerer Zeit zum Versteck zurück, in dem Xavier auf ihn wartet und schon Angst hat, er sei aufgriffen worden. Nein, er habe beim Ausflug in die Geschäftswelt in der Bäckerei auch gleich noch frisches Brot besorgt.
Nach etwa 580 Kilometern Fussmarsch in südwestlicher Richtung kommen sie an einem Sonntagmorgen nur noch etwa vierzig Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt in den Ort Egesheim, wo sie den Fehler begehen, an einem Sonntagmorgen durch das Dorf zu laufen und die falsche Richtung einschlagen. Als sie dazu noch auf die leichte Anhöhe steigen, um sich genau zu orientieren, ist gerade der Sonntagsmorgengottesdienst zu Ende gegangen. Schnell sind einige Gesellen zur Stelle – darunter einer mit Nazi-Mütze und Nazi-Armbinde und auf sie gerichteter Pistole – und fangen die körperlich geschwächten und durchfrorenen Gesellen ein. Als man sie aufs Bürgermeisteramt bringt, um sie vorübergehend bis zu ihrem Transport ins Bezirksgefängnis auf dem Dachboden einzuschliessen, erkennt der Bürgermeister Sauter ihre lamentable Verfassung und bittet seine Schwester, ihnen einen Teller warme Suppe zu servieren! Mit dem Lieferwagen bringt man sie anschliessend in den Bezirkshauptort Spaichingen, wo eine Gefängniszelle auf sie wartet, die sie einen Monat lang nicht verlassen werden. Die beiden Töchter des Gefängniswärters Huber lernen in der Schule gerade Französisch und parlieren radebrechend mit ihnen, bringen heimlich französischsprachige Bücher und Magazine und backen für sie zum Osterfest einen Kuchen. Eines Tages werden Mitterrand und Leclerc zur Feier des Tages sogar zum Essen in die Wohnung des Gefängniswärters gebeten: im Radio scheint man gerade die Einnahme Belgrads zu feiern. Nach einem Monat Gefangenschaft in Spaichingens Turmgefängnis führt man sie im bewachten Eisenbahn-Wagon wieder an den Ort ihres Ausbruchs nach Schaala und anschliessend ins Kriegsgefangenen-Stammlager IX A in Ziegenhain zurück und unterwirft die ohnehin ausgemergelten Sträflinge drei Wochen verschärfter Gefängnishaft bei Wasser und Brot.
Gefangenen-Professor und Meisterfälscher. In der Einzelzelle kommt Mitterrand mit dem zweiten Vertrauensmann der Gefangenen, einem Abt Dentin ins Gespräch, der ihm empfiehlt, doch in der «Zeitweiligen Universität Ziegenhain» mitzuarbeiten. Mitterrand wird einer von zehn Professoren der Universität und beeindruckt die 400 Studierenden mit seiner Kombination aus Wissen, Eloquenz und Kompetenz. So habe er, berichtet einer der damaligen Studenten, der selbst fachkundig ist, einen Mitterrand erlebt, der einen einstündigen Vortrag über Voltaire hielt, ohne ein einziges Blatt Papier vor sich haben – nur immer beide Arme am Pult aufgestützt und die Hörer im Blick. Der Jurist und Literat Mitterrand nimmt sich nicht nur publizistisch in der «Eintagsfliege»-Lagerzeitung «L’Ephémère» der Sorgen, Nöte und Motivation seiner Leidensgenossen an, sondern auch der dafür verantwortlichen Strukturen und Gesetze. Bald einmal steht er auch mit dem in Berlin eine Aussenstelle führenden Vorsitzenden des «Comité France-Allemagne» Scapini in Kontakt, der von Pétain beauftragt worden war, sich um die Haftbedingungen der französischen Kriegsgefangenen zu kümmern. Der Kriegsgefangene Mitterrand bildet sich selbst zum besten Kenner und Fälscher von Dokumenten aus, und verdient sich damit Geld für die nächste Flucht. Mit seinem älteren, im nichtbesetzten Frankreich lebenden Bruder Robert beherrscht er den Transfer von Reichsmarknoten in Zigaretten und vielen sonstigen Objekten der über die Rotkreuz-Organisation laufenden Gefangenen-Brief- und Geschenkpaketpost.
Zweite und dritte Flucht. Im November 1941 wagt er erneut die Flucht; diesmal als Zugpassagier mit selbst präparierten Papieren und zwei Kollegen als Begleiter. Er gelangt bis Metz und will die Nacht in einem nahe des Bahnhofs liegenden Hotel verbringen – doch die Inhaberin durchschaut ihn und ruft nach einer Stunde schon die Gestapo. Nun, nach dem zweiten Fluchtversuch, erreicht er den Status des Kriminellen und ist «reif für Polen». Da er dort keinesfalls hingebracht werden möchte, wagt er aus dem Lager durch die Übernahme schwerer Transporte und mit dem Auf- und Abspringen auf fahrende Züge einen dritten Ausbruch, zu dessen Gelingen in Boley-en-Moselle (Bolsheim) und Metz die Zeitungskiosk-Verkäuferin Marie «Maya» Baron beiträgt. Die Zeitschrift «Rivarol» bezweifelte 1956 Mitterands Angaben über die erste Flucht: er sei direkt von Yves Dautun befreit worden, einem entfernten Cousin und Kollaborateur sowie Anhänger Jacques Doriots.
Mitterrands persönliche Konsequenzen. Die Erfahrung der Kriegsverletzung und der schnellen Besetzung des nördlichen Teils seines Landes, die Gefangennahme und Freundschaften mit Arbeitern und Kommunisten, die Lageraufenthalte und die drei Fluchtversuche mit zwei weiteren Festnahmen machen aus dem christlich-national erzogenen und rechts politisierenden François Mitterrand einen Pragmatiker, der nicht Ideologien und «-ismen» länger vertraut, sondern seiner eigenen Handlungsfreiheit, Intelligenz, Erfahrung und Risikobereitschaft. Er hat in diesen vielen lebensbedrohlichen Situationen erlebt, dass es auf ihn alleine ankam, die Situation richtig zu deuten und schnell das im Moment Machbare in die Hand zu nehmen und zu besetzen. Die Freiheit, auswählen und selbst entscheiden zu können, wird für ihn oberstes Ziel. Das schliesst auch ein, Positionen ständig neu zu justieren und aufzugeben, wenn es ratsam erscheint. Er ist kurzfristig Opportunist und wirkt langfristig wie ein Macchiavellist. Er hält Treue unter Menschen, wenn sie sich einmal füreinander entschieden haben, für eine wichtige Konstante, ordnet sie aber der eigenen Freiheit unter. Er ist kein Moralist – zumindest nicht sich selbst gegenüber, auch kein Idealist oder gar ein Sozialist, wie sein ungleicher Freund und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt.
Zwischen Flucht und Résistance. Wie geht es ihm nach der dritten Flucht aus dem Stalag IX C ? Er selbst findet nun ein Heimatland vor, das in eine nördliche Besatzungszone Deutschlands und südlich in eine mit ihm kooperierende Französische Republik unterteilt ist. Im nördlichen von den Nazis besetzten Teil ist es für ihn sehr gefährlich, denn dort wird er gesucht. Der sicherere Ort ist für ihn die freie Zone mit dem Regierungshauptsitz Maréchal Pétains in Vichy. Wer kann ihm das nach drei schmerzhaften Jahren verdenken? Wie könnte er seinen in Gefangenschaft zurückgebliebenen Freunden am Besten helfen? Niemand hat mit deutscher Gefangenschaft und Fluchtmöglichkeiten grössere Erfahrung als er. Da will es der Zufall, dass man in Vichy gerade jemand für eine solche Aufgabe sucht. Doch mit Vichy habe er nichts am Hut gehabt, gibt er 1969 in seinem Erinnerungsbuch «Ma part de la vérité» - mein Teil der Wahrheit - bekannt und er schreibt: «Ich wurde Widerstandskämpfer, ohne jegliches Umstellungsproblem!» Da er den Zeitpunkt und den Ort dabei nicht angibt, dürfte es kaum sofort erfolgt sein. In Tat und Wahrheit galt es abzuwägen, was am besten geeignet ist, um die Deutschen wieder aus dem Land zu werfen.
Seit Kriegsbeginn hatte sich viel verändert. Hitlerdeutschland wollte zuviel und hatte zu viele Pulverfässer in zu kurzer Reihenfolge angezündet: nach der Aufteilung des gemeinsam eroberten Polens im Sommer 1941 auch noch Russland selbst. Nazi-Deutschland ist immer weniger in der Lage, die Ressourcen für den Vielfrontenkrieg zu beschaffen. Jetzt sind es plötzlich Frankreichs Allierte England und Commonwealth sowie Amerika, die im Herbst 1942 die zur Unterstützung von Mussolinis Besatzern nach Nordafrika eingedrungenen Truppen Deutschlands angreifen. Anfang 1943 wird die deutsche Sechste Armee bei Stalingrad eingekesselt. Doch auch in Frankreich selbst verändert sich die Lage: nach der Verdrängung Philippe Petains durch den neuen Regierungschef Pierre Laval im April 1942 wird im November auch das bis anhin nichtbesetzte Frankreich unterjocht und Mitterrands Vichy-Vorgesetzter Maurice Pinot abgesetzt. Der Widerstand, die Subversion, ja der Kampf gegen die einst so überlegenen Unterdrücker, wird der einzig gangbare Weg und bekommt eine reelle Chance. Seine exzellenten Kenntnisse der Kriegsgefangenenlager lassen Mitterrand bald mit dem Industriellen Antoine Mauduit Kontakt aufnehmen, der mit der Bewegung zur gegenseitigen Hilfe der Gefangenen die Organisation «La Chaine» ins Leben ruft, in der sein Freund Jean Munier aus dem Stalag Schaala bald einmal eine führende Aufgabe übernimmt. Noch den neuen Standort suchend, veröffentlicht er auch Beiträge in den ganz rechten Publikationen über seine Erfahrungen in Deutschland und den Lagern, die tendenziell nicht deutschfeindlich sind, sondern auch eklatante Versäumnisse in Frankreich aufzeigen. Gleichzeitig denkt er über Wege und Strukturen nach, alle bei einem Sieg der Allierten zur Verfügung stehenden Daten der Kriegsgefangenen zusammenzufassen. Zusammen mi Maurice Pinot baut er im Frühjahr 1943 im Widerstand das «Rassemblement national des prisonniers de guerre» (RNPG) auf. Ohne zu erwähnen, dass er zur gleichen Zeit mit dem «Francisque» den höchsten Orden Vichys erhalten hatte, berichtete er 1969 rückblickend in seiner «Wahrheit», mit dem langweiligen Vichy und dem Maréchal Pétain und seinen politisch altmodischen Strukturen nicht mehr viel am Hut gehabt zu haben. Doch bis Anfang 1943 oszillierte und schnupperte er in allen Gruppierungen.
Selbst seinem engvertrautenen Berater Jacques Attali schildert er noch im Juni 1984 seine damalige Situation wie folgt: «Im November 1942, als die Deutschen in die freie Zone vorstiessen, befand ich mich ausserhalb des Gesetzes, war ich doch ein Kriegsgefangener auf der Flucht – also musste ich auch ein solches Leben führen – falsche Papiere, gefälschtes Dies und gefälschtes Das – eine andere Art zu leben. Aber mein bekanntester Kriegsname war Morland; mein Name in England, den mir «France Libre» gegeben hatte, lautete Monnier. Nach dem Krieg zähle ich mehr als vierzig Identitätskarten, aber auf allen war ich in Dieppe zur Welt gekommen, denn in Dieppe war im Krieg das Einwohneramt bombardiert worden. Es war ausgebrannt, also nichts mit meiner Fälschung vergleichbar. Zu der Zeit nannte ich mich Basly, jemand der wirklich gelebt hatte. Ich war sehr geschickt in der Anfertigung solcher täuschend echt aussehender Personalausweise.»
Im Jahre 1943 besucht er Charles de Gaulle. 1943 nimmt Mitterrand mit General Charles de Gaulle Kontakt auf und trifft ihn in Algier. Mitterrand tut so,als habe er mit dem ehemals von de Gaulle hochverehrten, nun aber zum Verräter gewordenen Pétain nie etwas zu tun gehabt und bemüht sich um die Integration der Résistance-Kriegsgefangenen. Kaum im Untergrund in Paris tätig geworden, heiratet er auch schon Danièle Gouze, eine Résistance-Kämpferin der ersten Stunde aus einer ebensolchen Lehrerfamilie sozialistischer, der Religion fernstehender «Schwarzer republikanischer Husaren». In Résistancekreisen selbst ist er Befragungen nach seinen Aufenthalten nach der Gefangenschaft ausgesetzt. Der erfahrene Dokumentenfälscher bleibt souverän und verneint eine Tätigkeit unter Pétain in Vichy.
Nach der Niederschlagung der deutschen Besatzer durch die Alliierten amerikanisch-englischen Streitkräfte in Nordfrankreich ist es am 25. August 1944 General Charles de Gaulle, der sich zusammen mit seinen Résistancekämpfern bei der Befreiung von Paris an die Spitze stellt. Und wo ist Mitterrand iin diesem denkwürdigen Moment? Er ist Generalsekretär der Kriegsgefangenen mit Sitz im provisorischen Regierungsrat, den General Charles de Gaulle präsidiert. Gleichzeitig schreibt er für die im Untergrund entwickelte Zeitung der Kriegsgefangenen und Deportierten „L’Homme Libre“ („Der freie Mensch“). Er erlebt die Racheakte und die Lynchjustiz an den deutschen Besetzern und an mit ihnen zusammenarbeitenden Landsmännern sowie Frauen zu Tausenden. Auch an den durch Gerichtsverhandlung schuldig gesprochenen verhassten obersten Vichy-Verantwortlichen werden drakonische Strafen vollzogen bis hin zum Todesurteil an den obersten Kollaborateur Laval sowie Pétain, der jedoch von de Gaulle begnadigt wird. Wer sich diesem ersten Sturm der Empörung entziehen kann, kommt Jahre später mit viel geringeren Strafen weg.
Der wandelbare Pragmatiker der Macht. Anstatt als Vichy-Angestellter einer Strafklage ausgesetzt zu sein, erklimmt Mitterrand nun im Kreise der Résistancekämpfer führende Nachkriegspositionen. Wieder einmal hat er es geschafft, opportunistisch die Chancen zu erkennen und durch Bereitstellung seines Teils seiner Wahrheit eine plötzlich bedrohlich werdende Situation zu umgehen. Als Charles de Gaulle 1944 seine erste provisorische Regierung vorstellt, hat er es als erst 28-Jähriger zum jüngsten Kabinettmitglied gebracht und ist Minister für Kriegsgefangene. Zwei Wochen später scheidet er auch schon wieder aus. Zwei Jahre später ist er aber wieder im Boot und erinnert sich schnell aller drei Orte und Personen seiner Gefangennahme in Egesheim und Spaichingen beim ersten Fluchtversuch und seiner gelungenen Flucht in Boley-en-Moselle. Alle drei Orte besucht er 1947 als französischer Minister für die Kriegsgefangenen, liegen sie doch nun auf französischem Besatzungs- bzw. Hoheitsgebiet. In Egesheim und Spaichingen waren die damals mit ihm anständig umgehenden Bürgermeister und Gefängniswärter von den jüngeren aggressiven Nazis aus ihren Ämtern vertrieben worden, was er unmittelbar revidieren liess. Boley-en-Moselle besuchte er vorsichtshalber incognito, um dann auf Maya Baron zuzugehen und ihr zu danken. Aus all dem als Gewinner hervorgegangen zu sein, ist er stolz.
So ist er gewissermassen ein universell einsetzbarer Administrator und Politiker für viele Positionen: im Verlauf einer opportunistisch orientierten Karriere dient er in dreizehn weiteren Ministerämtern, darunter so auf so rigorosen Positionen wie der des Justizministers im Algerienkrieg, erhält aber nie einen Auftrag zur Regierungsbildung. Er entwickelt sich zum Chef der Anti-Gaullisten, zum Sprachrohr der Sozialisten, eines übergeordneten Programms der Linken und schliesslich zum Staatspräsidenten aller Franzosen. So tritt er 1965 gegen den schon 1958 wieder in die Politik zurückgekehrten Charles de Gaulle bei den Wahlen zum Staatspräsidenten an, wobei er gegen ihn ebenso knapp verliert wie 1973 gegen Giscard d’Estaing. Längst ist der mit allen rechten Insignien versehene und sich in aristokratischen Kreisen besonders wohl fühlende Mitterrand im Mitte-Links-Spektrum angelangt; aber dieses ist hoffnungslos zersplittert und lehnt den Einbezug der Kommunisten ab. Erst als sich Mitterrand durchsetzt, die Kommunisten aus taktischen Gründen mit ins Boot zu nehmen - ein Tabubruch für viele alte Sozialisten und Sozialdemokraten - gelingt gerade ihm als linkem Rechten 1981 der Durchbruch. Er hofft, einmal an der Macht, den Einfluss der Klassenkämpfer an der Realität zu messen und sie in Verantwortung zu zwingen: mit dem gewünschten Resultat, dass sie schon bei den zweiten Abgeordnetenwahlen die Hälfte ihrer ursprünglichen Wähler verloren haben. Im Lager der Sozialisten angekommen, pflegt er – der wohl altgriechisch und lateinisch spricht, aber weder Englisch noch Deutsch – den Kontakt auf internationaler Ebene. Längst ist offiziell die von den während des Krieges in ihren Ländern ins Exil versetzten Urgesteinen Adenauer – sein diskriminierender Frahm-Ruf sei hier aber auch nicht vergessen (!) – und Charles de Gaulle angebahnte (aber von Mitterrand torpedierte) deutsch-französische Zusammenarbeit mit Schuman, Monnet, Spaak und de Gasperi in Verträge gefasst und freundschaftlich in zahlreichen Städtepartnerschaften verankert. Mitterrand repräsentiert schon seit Jahren Frankreichs Linke im Gremium der Sozialistischen Internationale, deren Vorsitzender Willy Brandt ist.
Planung einer Jubiläumsreise in die Vergangenheit. Aufgrund der Tagungen der Sozialistischen Internationale sind François (Mitterrand) und Willy (Brandt) befreundet, einer der wenigen Deutschen, die bei der Machtübernahme Hitlers den Mut und die Möglichkeit hatten, zu emigrieren und aus Skandinavien gegen die Nazis zu kämpfen. Anlässlich von mit Willy Brandt und Partnerinnen Danielle und Brigitte im Sommer 1980 gemeinsam in Frankreich verbrachter Ferientage, fragt François Mitterrand Willy Brandt, ob er mit ihm kurz vor den französischen Präsidentenwahlen in seinen 580 Kilometer zu Fuss und bei Nacht gelaufenen Deutschland-Fluchtweg aus dem Stalag Schaala bis Spaichingen mit dem Auto nachfahren würde. Im März 1981 sei das genau 40 Jahre her. Das wäre mit ihm zusammen, dem ehemaligen Bundeskanzler, Hitlergegner, Friedensnobelpreisträger, Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale und Freund ein emotional wichtiges Erlebnis und ergäbe auch zwei Monate vor seinen Wahlen in Frankreich ein gutes Medienecho. Brandt stimmte zu, bot sich dadurch für ihn als Vorsitzenden der Sozialistischen Internationale in einem Zeitpunkt eisigen Schweigens zwischen Ost und West die Möglichkeit, zumindest gemäss seinem Konzept des Wandels durch Annäherung mit DDR-Funktionären zu sprechen. Also plante man vom 5.-7. März 1981 ein solches Treffen: als deutscher Reiseplaner wurde der persönliche Brandt-Assistent und spätere Hamburger Senator Thomas Mirow aktiv, als französischer Gegenpart der mit Mitterrand eng vertraute persönliche Berater Jacques Attali. Eine Pressekonferenz war auf speziellen Wunsch Mitterrands erst in Rothenburg ob der Tauber angesetzt worden. Brandt und die DDR-Granden treffen sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit – bloss kein zweites Erfurt (!) - in der Mitropa-Gaststätte an der Transitautobahn am Hermsdorfer Kreuz, während Mitterrand und Munier auf DDR-Seite Schaala und Rudolstadt besuchen und dann hier dazustossen. Gemeinsam fährt man nach einem Zwischenstopp in Nürnberg beim OB-Urgestein Urschlechter in die von Mitterrand gewünschte Tauberstadt. An der Pressekonferenz in Rothenburg sind dann ausser Jean Munier mit Gattin Ginette auch Stalag-Freund Roger-Patrice Pelat anwesend, der gleichentags in dieser Gegend eine seiner Fabriken besuchte. Warum Mitterrand gerade Rothenburg als Etappenort und für die Medienkonferenz ausgewählt hatte, hat damit zu tun, dass er hier nach Lazarett und Gefangenschaft sowie fünf Tagen Nachtmarsch bei Schnee, Regen, Kälte und in der Morgendämmerung Unterschlupf bei einer tapferen Bürgerin gefunden habe, liess er im Vertrauen Willy Brandt und seiner damaligen Partnerin und späteren Ehefrau Brigitte Seebacher wissen. Hier habe er erstmals seit langer Zeit wieder einmal das Gefühl einer kleinen Freiheit erlebt. Das sei ein leuchtendes Beispiel von Freundschaft zwischen deutschen und französischen Menschen mitten im Krieg.
Anders als ursprünglich gedacht und vereinbart. Doch als man in Rothenburg abends angekommen war, sah man wohl deutsche, aber kaum französische Journalisten. Es kam auch inhaltlich ganz anders, als Mitterrand vertraulich angekündigt hatte. Anstatt bei der Pressekonferenz in Rothenburg ob der Tauber seine 1941 bis jetzt nirgends erwähnte Unterbringung bei einer mutigen Frau in Rothenburg im Sinne wahrer deutsch-französischer Freundschaft bekannt zu geben, schweigt Mitterrand darüber und erzählte von Rudolstadt, Schaala, seinem Fussmarsch und der Spaichinger Festnahme durch einen geifernden Nazi. Nur dem Chefredakteur der Rothenburger Lokalzeitung „Fränkischer Anzeiger“ Dieter Balb beantwortet er seine gezielte Frage, ob er schon einmal in Rothenburg gewesen sei, mit Ja, er sei schon einmal vor vier Jahrzehnten ein Stück in der Stadt gewesen - allerdings nicht in einem so vornehmen Hotel wie hier - und dass man im Wald der Stadt gegenüber übernachtet habe: kein Wort mehr von einer couragierten Bürgerin und von einen Unterschlupf in einem kleinen Häuschen.
Anschliessend ging es mit den Autos über Villingen nach Spaichingen. Hier sieht Mitterrand den ihn damals festnehmenden geifernden Nazi wieder und wendet sich mit ihm der Presse zu: «Dieser Herr hat mich damals festgenommen. Er war ein richtiger Nazi mit einer Nazi-Mütze.» Anwesend waren auch die beiden Zwillingstöchter des Gefängnisaufsehers. Zahlreiche deutsche Zeitungen berichteten darüber.
Absolute Ruhe hingegen herrschte im französischen Blätterwald. In den französischen Zeitungen stand im März 1981, mit Ausnahme einer kleinen allgemeinen Notiz in der Parteizeitung „L’Unité“ und einer kleinen Ankündigung in der "Le Monde" über diese Reise mit Willy Brandt quer durch Deutschland nichts. Brandt staunte nicht schlecht über diese absolute Nichtbeachtung dieser Reise in Frankreich. Auch anschliessend mied François Mitterrand das Wort Rothenburg ob der Tauber in der Öffentlichkeit und in Publikationen, sprach auch über diese couragierte Frau nicht mehr.
Was war geschehen? Die vertuschte Vergangenheit drohte Mitterrand einzuholen! Seine Vichy-Beteiligung durfte bei den "Presidentielles 1981“ – den Wahlen des Staatspräsidenten durch die französische Bevölkerung - keinesfalls Diskussionsstoff werden! Das heisst, die Jahre 1942/43 mussten im Dunkel gehalten werden, um in Frankreich wählbar zu sein. Auch die im Sommer 1980 auf Anfang März 1981 mit Willy Brandt durch halb Deutschland führende Reise könnte Licht darauf werfen. So kommt eine typisch Mitterrand-Lösung: er macht das eine - und das andere auch!
Keine Experimente mit der stillen Kraft. Mitterrand tritt in der Wahlkampfwerbung um das mächtige Amt des Französischen Staatspräsidenten als „Die stille Kraft!» auf. In seinem 1977 erschienenen 620 Seiten starken Buch „Politique“ hatte er von einer „force tranquille“ geschrieben. Der mit der Ausarbeitung der grossen Mitterrand-Kampagne beauftragte französische Starwerber Jacques Séguéla hatte daraus den Slogan „Francois Mitterrand - Die stille Kraft“ entwickelt und den Beginn der Kampagne relativ spät auf Mitte März 1981 angesetzt. Und da sollte nun ein paar Tage vorher eine grosse Berichterstattung über eine Reise Mitterrands nach Deutschland erfolgen? Das könne ein möglicher Kampagnenkiller werden, denn wenn auch nur ein grosses Blatt auf die Vichy-Kollaboration und Deutschenfreundlichkeit hinweise, die ja dadurch bestätigt werde, würde man viele Wähler verlieren - die Sympathiewerte für die "Boches" seien zwar so gut wie noch nie, doch noch immer viel zu schwach, um sich damit Stimmen zu holen. Francois Mitterand hatte ausser dem Redakteur der parteieigenen Zeitung "L'Unité“ einige wohlgesonnene Journalisten eingeladen aber darüber orientiert, dass es sich um eine rein private Reise incognito handle und dass er, Mitterrand, es begrüssen würde, wenn man das respektieren könnte. Was man auch tat. So gewann er mit der „Stillen Kraft“ in Frankreich, und hatte sich nun anderen Aufgaben zuzuwenden, als der Anerkennung einer couragierten Bürgerin in Rothenburg ob der Tauber. Erst als seine zweite Präsidialperiode zu Ende ging, wurde seine Kollaboration mit der Pétain-Verwaltung aufgedeckt.
Mitterrands Vichy-Verstrickungen erst 1995 offengelegt. Erst 1995 wird deutlich, was Mitterrand 1981 vor einer zu grossen Demonstration der Sympathiekundgebung mit deutschen Freunden abhielt und was ihn ein halbes Jahrhundert plagte. Dem wahrscheinlich angesehensten französischen Journalisten Pierre Péan war es vorbehalten, in seiner Biographie „Der junge Mitterrand“ die Verstrickungen des mittlerweile todkranken Präsidenten zu enthüllen. Ein Aufschrei ging durchs Land: da hatte diese Sphynx doch mehr als eineinhalb Jahre an verantwortlicher Stelle im Vichy-Regime mitgearbeitet. Enttäuscht wendet sich Mitterrands kluger persönlicher Berater, der in Algier geborene jüdische «Pied Noir» Jaques Attali von ihm ab, hatte er doch mit ihm immer wieder über Vichy gesprochen und er den Unwissenden gemimt. Dabei war er mit wichtigen, auch an der Judenverfolgung Beteiligten noch immer vernetzt, wie beispielsweise dem damaligen Polizeisekretär René Bousquet. Und das kam so:
Nach einem mit besten selbstgefertigten Papieren und in die Kleidung eingenähten Reichsmark gewagten zweiten misslungenen Fluchtversuch bei Metz soll er nach Polen verbracht werden; doch gelingt ihm kurz zuvor sein dritter höchstgefährlicher Versuch. Von hier aus verzieht er sich aus dem direkten Überwachungsbereich des von Nazi-Barbaren besetzten Frankreich über die Demarkationslinie in die südliche von der Pétain-Regierung kontrollierte und unbesetzte, mit den Nazis aber zusammenarbeitende Landeshälfte nach Vichy. Er hat Bekannte und Verwandte, die in der Vichy-Regierung dienen. Und auch er ist – ausgebrannt von zweieinhalb lebensbedrohlichen Jahren – zuerst einmal nicht unglücklich in einem Regime, das kein weiteres Blutvergiessen mehr will und gegen eine mit modernsten Waffen ausgestattete Armee, die einen Teil seines Landes mit einem Blitzkrieg besetzt hatte. Doch der Preis für diese Art von Waffenstillstand war hoch. Hatte man dort nicht durch die Vichy-Polizei den ehemaligen Sozialistischen Regierungschef Léon Blum auf Anweisung der Nazis festgenommen und über die Demarkationslinie in die Hände der Gestapo gegeben, so dass er bald einmal im KZ landete und dort sein Leben verlor? Hatte man nicht die Wünsche bzw. Auflagen der Hitlerbarbaren aufgenommen und die französischen Juden zusammengetrieben und in Viehwagons 14‘000 Kinder, Frauen und Männer in die KZ-Gaskammern geschickt und dadurch ebenfalls Schuld auf sich geladen? Hatte man den beiden – und vielen anderen – Sozialdemokraten Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding 1941 nicht einmal in Arles die Ruhe des Untertauchens gelassen, sondern sie gefasst und gefesselt der Gestapo zu ihrer Ermordung ausgeliefert? Im Frühjahr 1943 zeitweise und ab November 1943 ist Mitterrand in Paris in der Résistance aktiv, fliegt zu Charles de Gaulle nach Algier und heiratet eine Résistancekämpferin der ersten Stunde, seine Danielle mit dem richtigen Stallgeruch. Doch schwebt über ihn zeitlebens dieses Damoklesschwert, dass seine wahre Vichy-Tätigkeit bekannt würde.
Wer in Frankreich wie François Mitterrand eineinhalb Jahre Mitläufer der Vichy-Verwaltung war, wurde bei der Libération streng bestraft, auch wenn er nur versucht haben sollte, pragmatisch das Beste aus der Situation zu machen. Er war ja kein Nazi – die kamen in Deutschland sogar bei Mittäterschaft problemlos ungeschoren davon. Dass Pétain den sozialistischen ehemaligen Regierungschef Léon Blum den Nazis ausliefert, kann Mitterrand in seiner Funktion ebenso wenig verhindern wie die Judenzusammentreibung und ihre Deportation in die Konzentrationslager. Das einzige, was er tun kann, ist innerhalb der vereinbarten Strukturen das Leben der Kriegsgefangenen zu erleichtern. Sein Freund Jean Munier engagiert sich wie auch er selbst in der Widerstandsgruppe von Antoine Mauduit, die sich «La Chaine», die Kette zur Verbesserung der gegenseitigen Kriegsgefangenenhilfe nennt. Er wohnt ab seiner Ankunft im Februar 1942 in Vichy in einem Haus, dessen Besitzer Renaud Waffen und Motorräder einsammelt, die amerikanische Flugzeuge mit Fallschirmen abwerfen. Sein Sohn Jean beklagt sich noch im Jahre 2015, dass sein Vater von den Nazis abgeholt worden sei, als Mitterrand dort auszog. Er hatte von Februar 1942 bis 11. November 1943 dort gewohnt. Ein halbes Jahrhundert lang wird er abstreiten, dort aktiv tätig gewesen zu sein. Ich als Deutscher der nächsten Generation fühle mich nicht im Recht, Mitterrand in diesem Zusammenhang etwas vorzuwerfen oder ihn gar zu verurteilen; ich fühle mich höchstens aufgefordert, mich im Namen meiner Kultur für das Leid zu entschuldigen, das ihm und seinen Opfern die Generation meines Vaters gebracht hat. All das, was man ihm in bezug auf Vichy vorwirft, war nicht von ihm gewollt und wurde gegen seinen Willen, aber auch nicht gegen seinen Widerstand von anderen angeordnet und durchgesetzt. Oder gibt es mir unbekannte Gegenbeispiele? Hat er nicht auch unsere Nachsicht und unser Mitleid verdient?
«Niemands» erneut vergessene «Tochter»
Lebenslang erzählt Mitterrand seine Fluchtgeschichten ohne eine Episode, die ihm in Rothenburg ob der Tauber passierte und die in diesem Dokument erstmals beschrieben wird. Denn niemand hätte François Mitterrand die Unterbringung der beiden französischen Kriegsgefangenen in Rothenburg geglaubt, sondern hätte sie als Beweis dafür dargestellt, dass er direkte Fluchthilfe durch den Nazi-Kollaborateur Yves Dautun genoss. Gleichwohl war François Mitterrand 1981 drauf und dran, diese Episode bekannt zu geben. Doch weil ihm die Wahl zum Staatspräsidenten wichtiger war, verzichtete er schliesslich darauf und nahm sie mit ins Grab. Wir schildern sie hier unter Einbezug aller uns heute vorliegender Tatsachen, Indizien und Erkenntnisse, und sie tönt so unwahrscheinlich wie paradox: der entflohene und zur Suche ausgeschriebene Kriegsgefangene François Mitterrand versteckte und verpflegte sich mit seinem Begleiter Xavier Leclerc während seiner ersten Flucht am 10./11. März 1941 in der Hochburg der Nationalsozialisten Rothenburg ob der Tauber. Für die Nationalsozialisten galt dies nicht nur in Bezug auf das Stadtbild, sondern auch ideologisch und parteipolitisch. Bei der Reichspräsidentenwahl vom 13. März 1932 mit einer Wahlbeteiligung von 96,6% (!) hatte Adolf Hitler 87.5% der Stimmen erhalten, sodass Rothenburg "der beste nationalsozialistische Wahlkreis ganz Deutschlands" war. Alle Parteibonzen, von Hitler über Goebbels und Göring, kamen hierher einschliesslich ganzen Sonderzügen der Nazi-Kuppelaktion "Kraft durch Freude". Und in diesem von den Nazis durchseuchten Städtchen soll er 1941 gewesen und nicht festgenommen worden sein? Unter diesem Damoklesschwert soll es eine Frau gewagt haben, Menschlichkeit und Barmherzigkeit zu zeigen und Flüchtenden und Deserteuren Unterschlupf zu bieten? Die 1903 geborene und in ihrem Haus Alter Keller 17 wohnende Maria Staudacher, eine 1943 mit dem Goldenen Nazi-Mutterkreuz geehrte Mutter von acht Kindern, hatte seit der Machtüberahme durch Hitler den Mut, immer wieder Flüchtende in Not in ihr Haus aufzunehmen. Ein Verhalten, das Mitterrand im Gespräch mit Elie Wiesel als «archaisches Mitleid» bezeichnet hatte und das ihm hier in Deutschland begegnet sei. Obwohl Maria Staudacher diese Flüchtenden ganz alleine möglichst unter Abschirmung vor ihren Kindern aufnahm und mit ihnen darüber nicht oder nur im Notfall redete, wussten davon nicht im Detail aber generell ihr Mann, ihre vier älteren Kinder, ihr buckliger Schwager, ihre kommunistische ins KZ gesperrte Freundin, ihre in der Adventistengemeinde Mitbetenden, François Mitterrand, ein nazikritischer evangelischer Pfarrer, ein sozialistischer Kostgänger, der im KZ umgebrachte kommunistische beste Freund ihres Mannes, und ein Meerretichkren- und Pfefferminztee-Hausierer.
All diese Personen wussten prinzipiell, dass Maria Staudacher im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge versteckte, aber keiner denunzierte sie; einige* sandten ihr wahrscheinlich auch Hilfsbedürftige zu:
- Ihre durch die Nazi-Propaganda verängstigten vier ältesten Kinder Wilhelm (Jg. 1928), Gretel (1932), Wilma und Erich (1935); später auch Frieda (1938), Hans (1940), Werner (1942) und Fritz (1943/Autor dieses Berichtes).
- Ihr eigener die NSDAP-Mitgliedschaft ablehnender und deswegen zum Arbeitsdienst eingezogener Mann; er sah auch die grosse Gefahr, entdeckt zu werden, verbot es ihr aber nicht; war vielfach im Arbeitsdienst, später ab Herbst 1943 in Italien im Kriegsdienst.
- Ihr ebenso verängstigter sozialdemokratischer und wegen einer Rückratsverkrümmung selbst euthanasiegefährdeter buckliger Schwager Fritz Flohr, Patenonkel ihrer Sohnes Erich und Pflegevater ihres Sohnes Fritz; Fritz Flohr, der aus rassistischen Gründen nicht zur Meisterprüfung als Flachmaler zugelassen wurde, bezeichnete seine Schwägerin Maria unter vier Augen als Schlampe, weil sie die eigene Familie durch die Aufnahme von «Volksfeinden» unverantwortlichen Risiken bis hin zu ihrer eigenen Erschiessung durch die Nazis aussetzte; doch das beeindruckte sie nicht gross und antwortete, eine schwangere Frau werden sie wohl nicht wagen, zu erschiessen.
- Ihre kommunistische Bekannte Anna Flohr*, entfernt verwandte Rothenburgerin, in Frankfurt mit ihrem Mann ins KZ eingeliefert. Sie kannte Marias Hilfsbereitschaft aus den Dreissiger Jahren;
- Ihre Siebentagsadventisten*, mit denen sie samstags betete und die zunehmend untertauchen mussten seitdem sie aus der evangelischen Kirche ausgetreten war.
- Der evangelische Pfarrer Felden*, der wegen Unbotmässigkeit gegenüber den Rothenburger Nazis der Bekennenden Kirche zugeordnet werden dürfte und rasch an die Kriegsfront beordert wurde, wo er umkam.
- Ihr wöchentlich erscheinender sozialistischer Kostgänger Wilhelm Löslein,* mit Kontakten ins linke Milieu;
- Der beste, im KZ umgekommene Freund ihres Mannes.
- Ihr Meerettichkrenstangen und Pfefferminztee-Hausierer X. Y.* aus dem Nürnberger Knoblauchsland; kam mindestens zweimal pro Jahr eine Woche nach Rothenburg und übernachtete in der Wohnstube; war immer unterwegs und begegnete zahlreichen Suchenden.
- Ihr für die französischen Kriegsgefangenen zuständiger François Mitterrand,* der am 10./11. März 1941 selbst hier war und diese Adresse sicher in Fluchtweg-Verzeichnisse aufgenommen hat. Daraus lässt sich erklären, weshalb immer wieder französische Gäste an die Haustüre klopften, die vielfach nicht abgeschlossen war.
- Ihr 13-jähriger Hitlerjungen-Sohn «Willi» Wilhelm, der die Mutter immer wieder beschwor, damit aufzuhören. Für ihn als HJ-Führer alleine schon würde eine solche Entdeckung schlimmste Folgen haben, da er dem Feind im eigenen Haus half. Darauf stehe nicht nur für sie die Todesstrafe, sondern auch für ihn selbst in seiner Position stehe praktisch alles auf dem Spiel. Da er der HJ des Landkreises vorstand, wollten den 17-Jährigen strengen HJ-Führer bei Kriegsende in Schillingsfürst von ihm schikanierte Bürger aufhängen. Nur dank eines schnell herbeigerufenen amerikanischen Offiziers entkam er dieser Lynchjustiz.
François Mitterrand hatte eigentlich schon im März 1981 öffentlich über diese selbstlose und couragierte Frau berichten wollen, zog es jedoch aufgrund der ungünstigen Prognose vor, seine Wahl zum Staatspräsidenten im Mai 1981 durch eine solche Aussage nicht zu gefährden. Seine Behauptung, nach seiner Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager Ende 1941 in die Résistance gegangen zu sein, wurde erst 1995 von seinem Biographen Pierre Péan im Buch «Eine französische Jugend» widerlegt.